Darius

Als seinen wir alte Bekannte, seine engsten Vertrauten, erzählt uns Darius seine Lebensgeschichte. Eben fragten wir ihn noch nach einer Möglichkeit, zu Mittag zu essen, schon sitzen wir mit ihm an einem kleinen Tisch eines iranischen Fastfoodladens. Natürlich sind wir seine Gäste.

Er spricht ruhig, aber bedacht. Seine Augen verraten auf den ersten Blick nicht, in welcher Klemme er steckt. Hin und her gerissen zwischen zwei Kulturen hat er vorschnell eine Entscheidung getroffen, die er heute bereut. Das junge Mädchen neben ihm schweigt. Seine zittrige Hand, bei unserer Frage nach seinem Verhältnis zu ihr, verrät sein Unbehagen.

Vor 20 Jahren sei er nach Holland gezogen. Er ist glücklich dort, er ist frei. Er habe sich ein Geschäft aufgebaut (gefälschte Designermöbel, dazu steht er), und eine holländische Freundin angelacht. Nur eines habe ihm immer gefehlt. Die Familie. Es sei anders, hier im Iran, meint er. Die Familie bedeutet alles, alle leben gemeinsam, jeder weiß alles über jeden. Alle gehören zusammen. Als sein Vater im Sterben liegt, vor zwei Jahren, kehrt er erstmals nach 20 Jahren zurück in die Heimat. Er spürt ein starkes Zugehörigkeitsgefühl, das ihn plötzlich erinnert, was es bedeutet, eine Familie zu haben. Und so folgt Eines auf’s Nächste. Kleine Sticheleien der Mutter, warum er noch immer keine Frau habe, er solle sich seine jüngeren Bruder mal anschauen, die hätten bereits zwei gesunde Kinder. Die Sehnsucht, dazu zu gehören überrumpelt ihn, und dann dieses junge hübsche Ding, das er schon von langen Telefonaten kannte.

Er heiratet kurzerhand seine Cousine. Die junge Frau ist jetzt 18 Jahre alt, sie schaut uns schüchtern an, als sie merkt, dass wir über sie reden.

Nach einem Jahr im Iran ist er schlauer; er möchte nicht hier leben, er will seine Freiheit nicht eingeschränkt wissen, er will keine iranische Frau. Er liebt die holländische Freundin.

Es ist hart, was er in ihrer Gegenwart über seine Frau sagt, auch wenn sie kein Wort Englisch spricht. Es ist schwer zu begreifen, in welcher Situation er sich befindet. Nicht nur er, auch seine beiden Frauen sind mitgefangen.

Was seine Pläne für die nahe Zukunft sind, fragen wir, teils fassungslos, teils voll Mitgefühl. Es ist wohl eine überflüssige Frage, denn aus seiner ruhigen, bedarften Art, spürt man auf den zweiten Blick die tiefe Verzweiflung.

Er weiß es nicht, sagt er nach einer kurzen Pause.

11 Kommentare

  1. karinscheer

    Beim Namen Darius zuckte ich innerlich zusammen, ich hatte einen Schüler namens Darius, er kam aus der Türkei, er war hin- und hergerissen zwischen zwei Welten: der trad. Familie und der Freiheit in Wien. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur: diese Menschen haben es verdammt schwer.

  2. Revesz Georg Thomas

    In neun Monaten, spaetestens naechsten Sommer ist Darius wieder in den Niederlanden. Und wird lange gluecklich werden mit der hollaendischen Freundin

  3. belutzername

    Es ist wie mit den Designer-Möbeln. Sehen gut aus, sind aber Fake. Darius wird bleiben und viele Kinder bekommen. Und oft in Holland sein, um das Geschäft mit den möbeln weiter zu führen. Was sein Glück ist, wissen wir nicht. Ob Georg oder ich recht haben werden, wissen wir auch nicht. An dieser stelle einen herzlichen Gruß an alle Schmiede.

  4. gisabuehner

    Eine ergreifende Geschichte. Da sie sich aus seiner Perspektive darstellt, schlage ich mich spontan auf seine Seite. Auch wenn ich gleich fassungslos bin, dass er sein Unglück, egal in welcher Sprache, in Anwesenheit seiner kaum volljährigen Frau erzählt.
    Schon hier spüre ich eine grundlegende Missachtung.
    Aber dann entferne ich mich schnell von diesem sympathisch wirkenden Mann, der egal was er weiter tun wird, immer mindestens eine Frau ins Unglück reisst. Es begann mit seiner holländischen Freundin, die er sitzengelassen hat. Dann ging’s weiter mit der armen kleinen schüchternen Cousine, die sich sicher nicht einen in ihren Augen wohl schon recht alten Sack als Mann gewünscht hat und nun bestimmt spürt, auch ohne die Fremdsprache zu verstehen, was hier gespielt wird.
    Verachtend beiden Frauen gegenüber, sein Verhalten.
    Sein eigenes Unglück empfinde ich daher als folgerichtig. Ich sehe keine Möglichkeit für ihn, da noch irgendwie rauszukommen.
    Die besten Karten hat eigentliche die holländische Freundin. Falls sie sich neu verlieben kann. Und weil sie in Holland lebt…

    • Interessant, was ihr euch alle fuer ein Bild von der Lage macht. Es ist ein sehr westliches Bild. Die Umstaende sind aber anders, zumindest fuer den iranischen Teil der Geschichte, also die Cousine.
      Im Iran (ausserhalb einer Minderheit in der kleinen Ober- und Mittelschicht, die nicht nur im Materialismus, sondern auch in Liebesdingen „westlich“ tickt) glaubt man nicht nur monotheistisch, man lebt auch monogam. Zumindest denken die jungen Frauen wie im Stoff eines Hollywoodfilms. Irgendwann kommt der Maerchenprinz, und in den verliebt man sich auf den ersten Blick, und den heiratet man, und dann kriegt man Kinder.
      Ob der der richtige ist? Die Frage wird gar nicht gestellt. Mitgehangen, mitgefangen. Einziger Trennungsgrund ist Unfruchtbarkeit, schwere Drogensucht, schwere Misshandlung der Frau oder bei Kriminellen Handlugen erwischt werden. Marotten und Charaktereigenschaften gehoeren zum Ehemann dazu, sind sekundaer. Die Herangehensweise ist voellig anders. Mann gefunden? Familie gruenden. Nicht hinterfragen.
      Bei uns nimmt man die eigene Erfuellung als gegeben. Sie steht an erster Stelle, vor der Ehe. In Iran ist es umgekehrt. Man nimmt die Ehe als gegeben, erst danach kommt das Individuum.
      Unter diesen Vorzeichen glaube ich nicht, dass die Cousine ungluecklich ist. Sie hatte mit 99%iger Wahrscheinlichkeit keine Jugendliebe vor ihm. Wenn, dann eine platonische. Fuer sie kommt der reiche, interessante, exotische Mann aus dem zauberhaften Europa, und fuehrt sie in die Welt der Liebe ein. Er *ist* die Liebe. Dass er eine andere Freundin haben koennte, sprengt unter Umstaenden ihr Vorstellungsvermoegen. Vor der Ehe hat man keine Berziehung zu haben.
      Das einzige, was sie ungluecklich machen koennte, waere seine Abwesenheit. Aber gegen die Einsamkeit hat sie noch ihre vier Geschwister und die Eltern, bei denen sie wohnt. Uebrigens sind das sechs Gruende, nicht nach Europa zu gehen.

  5. gisabuehner

    Ich möchte noch einen weiteren Kommentar aus westlicher Sicht hinzufügen, da mich diese Geschichte offenbar total gepackt hat. Ich bin mit ihr in Gedanken eingeschlafen und auch wieder aufgewacht…

    Die Holländerin wird ihn ganz sicher nicht zurückhaben wollen!

    Und damit möchte ich Georgs Zukunftsversion ins Märchenreich verweisen, Georg, du hast die Rechnung ohne die Frau gemacht, deren Seite hast du überhaupt nicht bedacht!
    Es sei dir verziehen, du bist ja ein Mann…

    Ob die Holländerin wohl schon gleich bei seiner ersten Reise in den Iran nach langer Abwesenheit ein mulmiges Gefühl hatte? Oder hat sie ihm so sehr vertraut, dass sie sicher war, er käme zu ihr zurück? Und was hat sie dann wohl gedacht, als sie erfahren musste, dass er ihr nicht nur den Laufpass gibt, sondern auch noch schnell eine vielleicht halb so alte Frau heiratet, fast noch ein Kind? Ein größerer Vertrauensbruch ist ja zwischen Mann und Frau kaum denkbar.

    Unvorstellbar, dass sie ihn noch nimmt. Und ähnlich unvorstellbar, dass sie sich noch einmal in einen Perser verliebt.

    Ansonsten tatsächlich, Moritz, was du sagst gibt wirklich noch mal ein östlicheres Licht auf das Ganze. Ich kann es nachvollziehen!

    • Kurzes Update: Die Hollaenderin hat schon bei seiner ersten Rueckkehr nach Iran geahnt, dass er heiraten wuerde, und sich einen Phillipino gesucht. Beide wissen von den Partnern der anderen. Aus Darius Sicht begehrt er die Ex trotzdem noch. So weit er uns das erzaehlt hat.

  6. Hias

    Nanu, ists mit Darius jetzt vorbei, die virtuelle Reise?

  7. belutzername

    es gibt nicht wenige, die im hintergrund auf fortsetzung hoffen!

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