Teurer Seelenfrieden

Von der Förderung kultureller Einblicke und dem größeren persönlichen Reisevergnügen einmal abgesehen, habe ich mich immer gefragt, ob meine Fremdsprachenkenntnisse einmal einen tieferen Sinn für die Allgemeinheit erhalten würden. Einen konkreten Sinn, der über das abstrakte Thema der Völkerverständigung hinaus geht. Heute war der Tag des Exempels.Ich sollte Clara nach dem Mittagessen am Bug treffen, ganz vorne auf dem Schiff, wo keine Container stehen, und keine Aufbauten, dem einzigen Ort am Schiff, wo es kein Brummen, keine Vibrationen, keine Lüfter, keinen Krach gibt. Dort, wo nur eins präsent ist: Das Gleiten des Schiffs durch klares, tiefes Wasser.
An diesem Ort steht nicht viel. Ein paar Poller zum Festmachen der Taue, zwei große Winden für die Ankerkette, eine Tür zu einem kleinen Lagerraum unter Deck. Hier kann man sich auf offener See darauf verlassen, dass Stille herrscht. Tiefe, einmalige Stille, Ruhe und Konstanz.

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Anstelle von Clara finde ich an diesem Tag ein Geräusch vor, das mir durch Mark und Bein geht. Dass hier außer den mir in den vergangenen drei Wochen sehr vertraut gewordenen Dingen auch das Schiffshorn steht, das weiß ich jetzt.

Die Leute auf der Brücke wollen mir einen Streich spielen, schlussfolgert mein vom Hupen noch benommener Kopf. Doch als ich mich halb erbost, halb belustigt, in Richtung derselben aufmache, kommt mir Clara aufgeregt entgegen, und berichtet von einem Umweg, den das Schiff wegen eines medizinischen Notfalls auf einem anderen Schiff einlegen muss, und wenn ab diesem Zeitpunkt eins gestrichen ist, dann ist das Stille. Als wir die Brücke betreten, um näheres zu erfahren, fragt der Kapitän einen Mann am Funkgerät, ob er Englisch spreche. Klare Antwort: „Non, Monsieur, on parle francais.“

Meine Stunde hat geschlagen. Ich nehme das Funkgerät und vereinbare auf Anweisung unseres Kapitäns mit dem Kapitän des Notfallschiffs, dass der kranke Patient, den wir abzuholen haben, mit seinem eigenen Rettungsboot zu unserem Containerschiff gebracht werden soll. Eigentlich herrschte an diesem Tag ungewöhnlich ruhige See, so dachten wir. Doch als vor den Fenstern der Brücke am Horizont das kleine Fischerboot erscheint, wird es von den offenbar doch nicht so kleinen Wellen gehörig zum Schwanken gebracht.

Durch das Fernglas sehen wir drei Personen beim Versuch, in ein noch stärker schwankendes, winziges Schlauchboot zu steigen. Auf meine Funksprüche antwortet niemand mehr. Wir wollen wissen, ob der Patient in der Lage ist, eine Strickleiter hochzuklettern. Wie wir von der Küstenwache wissen, hat er 39,8° Fieber und halluziniert. Unwahrscheinlich, dass so einer noch klettern kann, aber unser Kapitän will so wenig Zeit wie möglich verlieren.

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Eine halbe Ewigkeit später macht sich das kleine Beiboot der Fischer endlich auf den Weg zu unserem Schiff, einen beschwerlichen und langen Weg durch die hohen Wellen. Halb vollgelaufen dockt es schließlich am Schiff an, das winzige Boot, an der Stelle, wo sonst der Lotse einsteigt. Im Boot drei tätowierte, mittelalte, klitschnasse Männer. Der eine hockt auf dem Schlauchbootrand, absurd blass. Größer könnte er nicht sein, der Kontrast, zwischen der Durchsichtigkeit seiner Haut und den Signalfarben seiner Schwimmweste. Er kann sich kaum aufrecht im Boot halten. Zitternd versucht er sich zu erheben, um den Sicherheitsgurt anzulegen, der ihm von der Crew herabgelassen wird. Keine Chance.

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Das wird nichts, der Kran muss ran. Ich rufe den Männern zu, sie sollen auf die andere Schiffsseite fahren, leider die wind-zugewandte, nach hinten, da ist der Kran. Ich sage hinten, nicht achtern, weiß der Teufel auf was für einen Fachbegriff französische Seemänner für so einfache Dinge wie vorne und hinten kommen.

Als das Bötchen hinten angekommen ist, hockt der arme blasse Kerl in seinem Schlauchboot in knietiefem Wasser. Man lässt ihm keine Bahre herab, sondern einen rostigen Eisenkäfig mit alten Planken am Boden, einen Frachtkäfig, der zum Auffüllen der Küchenvorräte in ruhigen Hafen-Liegeplätzen gerade noch taugt. Die Ecken dieses Käfigs kommen hier auf offener See dem Gummischlauch des Boots gefährlich nah.

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Plötzlich drückt eine Welle den Käfig ins Wasser, alle Planken schwimmen auf, der Käfig hat keinen Boden mehr! Die gesunden Männer greifen nach dem Käfig, versuchen ihn gleichzeitig im Boot zu halten, die aufschwimmenden verrutschten Planken an ihren Platz zurückzulegen, und den Kranken in den Käfig zu schubsen. Die Dünung schaukelt das Bötchen, das Wasser verschiebt die Planken, und Jay, als Bosun normalerweise für die Ausbesserung von rostigen Stellen an Deck verantwortlich, versucht sich in der unlösbaren Aufgabe, den elektrischen Kran an die von den Wellen ständig veränderte Höhe des Beibootes anzupassen. Ein Kran, der sonst nur für die Küche verwendet wird, für Lebensmittel und Müll, soll jetzt ein menschliches Leben retten.

Mit einem Mal, als die Planken wieder halbwegs gleichmäßig liegen und der Käfig so etwas wie einen Boden hat, als der Kranke endlich im Käfig gelandet ist, und die rostigen Ecken drohen, das Schlauchboot unter der Last des Käfigs zu zerstören, schreien alle. Der Ring, der den Käfig hält, ist aus dem Haken vom Kran gerutscht. Nur noch ein dünner Behelfsgurt stellt die Verbindung her, nicht der für die Last ausgelegte Metallring. Verdammt, was heißt Haken auf Französisch?

Irgendwie verständigen wir uns, und die Fischer klinken den Ring wieder ein. Keine Ahnung wie, aber nach einer halben Ewigkeit ist der Patient im Käfig, der Ring im Haken und Jay manövriert mit dem Kran den Käfig an Deck.

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Kaum kommt er zum Stehen, und der schlotternde Kranke stemmt sich zwischen die starken Schultern zweier Männer, machen sich seine strapazierten Kumpanen aus dem Staub. Ein letztes Wort schreien sie aus dem Beiboot in den Tumult an Deck: „…faut le surveiller“, man muss ihn im Auge behalten. Das verheißt nichts gutes.

Als ich den Daumen nach oben halte, sehe ich sie erleichtert wegfahren. Im Käfig liegt noch ein Koffer, verpackt in einen aufgerissenen Müllsack und durchtränkt vom erbarmungslosen Meerwasser.

In der ersten leeren Kabine neben dem Eingang zum Wohnturm nimmt der schlotternde Patient Platz und erhält einen Tee. Er hat 2 Gramm Paracetamol intus, die ihm seine Kollegen innerhalb von 3 Stunden verabreicht haben. Er schwitzt und zittert auch noch längst nachdem er warm geduscht hat. Er bittet um einen Schuss Rum im Tee. Er faselt von einer Messerattacke, immer wieder die gleiche Story. Er hantiert mit seinem fiktiven Fieberthermometer auch noch lange, nachdem wir das echte unter seinem Arm herausgezogen haben. Er hat kein Fieber.

Der eine vernebelt, der andere durchnässt. Der Kopf und der Koffer dieses Typs sind in einem unnormalen Zustand. Ich nehme den Inhalt, den des Koffers, in die Hand, und suche den Wäschetrockner für die Crew. Clara ist auf der Brücke, für letzte Absprachen über Funk. Die sprechen tatsächlich kein einziges Wort Englisch, kein einziger der jetzt noch fünf Crewmitglieder an Bord des Fischerboots.

Die Gaffer aus der Containerschiff-Crew, eben noch maximal zahlreich und maximal sensationsgeil, sind plötzlich mitsamt ihren Handyfotos wie vom Erdboden verschwunden. Ich geistere über den Flur des ersten Decks und finde niemanden, um zu fragen, wo der Trockner ist. Als ich den Kapitän anrufe, kommt der Kranke aus seiner Kabine auf den Flur, immer noch klitschnass. Er will zurück auf sein Fischerboot, dort hat man ihm weisgemacht, er käme nur für einen Arzttermin an Bord und könnte danach zurück. Tatsächlich ist das Containerschiff viel schneller unterwegs, es braucht kürzer als das Fischerboot, um in die Reichweite der Hubschrauber von der Küstenwache zu gelangen. Ein solcher wird ihn bald abholen, erkläre ich ihm, kein Fischerboot, aber davon will er nichts wissen.

Ich finde den Trockner, ich finde die richtigen Worte, doch selbst nach dem Duschen und in gewechselten Klamotten bleibt der Patient nicht lange trocken. Er schwitzt von innen alles nass; vier Tassen Tee hat er jetzt schon getrunken. Die Teebeutel legt er nicht auf den Tisch. Mangels Untertasse fragt er, wohin er sie legen soll. Als Clara den Raum betritt, schnellt er in die Höhe, um ihr die Hand zu schütteln. Dieser Todkranke ist quietschfidel, er hat Manieren, ein rustikaler Fischer zwar, aber auch ein echter Franzose.

Der 2. Offizier bringt Äpfel und Brot. Wir geben dem Patienten die Telefonnummer der Offiziersmesse, unserem Nachmittags-Aufenthalt, falls was ist, und drängen ihn zum 14. Mal dazu, die nassen Schuhe wieder auszuziehen und sich in der Kabine aufs Ohr zu legen. Er sitzt und schwitzt, faselt jetzt etwas weniger. Er scheint friedlich und bei Kräften. Wir lassen ihn in Ruhe.

Keine halbe Stunde danach, wir sitzen in der ruhigen Offiziersmesse, durch die Küche dringt Actionfilmlärm aus der Crewmesse, kommt Ray, der Stewart. Er sei jetzt auch in der Crewmesse, sehe fern. Er schwitze noch, trinke aber Tee. Ihm gefalle der Film. Es gehe ihm gut.

Wir sind fassungslos. Ein fiebriger todkranker, dessentwegen ein ganzes Containerschiff umgeleitet wird, sitzt plötzlich munter vor der Glotze. Aber wir sind auch geschafft von der Aufregung, und denken, der Patient wird sich schon wieder von alleine hinlegen. Als er wieder zu zittern beginnt, erfahren wir, wird er von einigen Crewmitgliedern zu „seiner“ Kabine gebracht.

Als wir die Aufregung schon fast für beendet halten, aber dem Braten noch nicht ganz trauen, klingelt kurz vor Mitternacht das Telefon in unserer Kabine. Wir eilen nach unten. Fast alle sind da, auf dem Flur, fast 20 Männer, und mittendrin ein völlig aufgelöster Fischer, ein tätowierter Mann, die Arme stark, die Verzweiflung noch stärker, aufgelöst in fremder Umgebung, in fremden Versprechen, und in völlig paranoiden Wahnvorstellungen, in voller Montur, durchgeschwitzt bis zur Daunenweste, mit gepacktem Rollkoffer. Als ihn gerade niemand am Arm hält, als nicht dutzende Philippinos, Russen, deutsche und Rumänen gleichzeitig „beruhigend“ auf ihn einreden, stürmt er durch die Tür, stürmt er an Deck, schreit seinem imaginären Boot, das ihn imaginär abholt, eine erleichterte Anweisung zu, und wäre um ein Haar über die Reling ins schwarze Meer gesprungen, wenn der Käptn ihn nicht in letzter Sekunde beherzt gepackt, beherzt angeschrien und beherzt in Handschellen gelegt hätte.

Dieser Eskalation ging ein stundenlanges hin und her auf dem Flur voraus. Schon vorher hatten wir den zweiten Offizier, der den Schlüssel zum Medikamentenschrank verwaltet, gebeten, ein dämpfendes Psychopharmakon zu verabreichen. Gäbe es nicht. Doch der Vorfall an der Reling bringt selbst seinen eigentlich unerschütterlichen phillippinischen Gleichmut ins Wanken. Der Offizier holt seine Arzneiliste, gibt uns sogar einen Einblick. Siehe da, Diazepam, wer sagt’s denn. Als einzige an Bord sowohl mit Engelsgeduld als auch mit einem Werkzeug zum Durchbrechen babylonischer Sprachbarrieren gesegnet, schaffen wir es schließlich, den armen Verrückten, der mit einem Arm an ein Geländer gefesselt auf dem nicht gerade romantischen Flur eines Containerschiffs zwischen großen slawischen Männern steht, zu überreden, seine Pille zu schlucken. Fast eine Stunde und noch eine Pille später hört er schließlich endlich auf zu schwitzen, zu faseln, und ist bereit, zurück in die Kabine zu gehen, die man schon seit der Kran-Aktion für ihn bereit gestellt hatte, in der er aber nicht sein will, und, überwacht von einem bemitleidenswerten Crewmitglied, die ganze Nacht auf dem Bett zu sitzen und missmutig auf ein unangetastetes Schachbrett zu starren.

Der Helikopter der Küstenwache lässt auf sich warten. Obwohl wir volle Kraft voraus unter brummenden Maschinen mit wackelnden Kabinenwänden durch die Nacht pesen, ist der Weg von der Küste zum Schiff auch am nächsten morgen noch zu weit.

Als der Fischer am späten Vormittag wieder schreiend über den Flur wütet und versucht, die abgeschlossenen Türen einzutreten, wird er zum zweiten Mal in Handschellen gelegt. Wir erfahren zufällig vom Medizin-Beauftragten, dass der Patient die Aufnahme der morgendlichen Pille verwehrt hatte. Uns darüber zu informieren hielt er nicht für nötig. Einige Handgreiflichkeiten, eine Stunde Überredung, und zwei Pillen danach ist die Welt wieder einigermaßen in Ordnung, sogar noch bis zum späten Nachmittag, als ein Sondereinsatzkommando des französischen Militärs unseren marodierenden, gemeingefährlichen Verrückten, der jetzt medikamentös einigermaßen gut eingestellt und vor Erleichterung über das vorläufige Ende des ganzen Spuks bis über beide Ohren lächelnd mit seinem kleinen Rollkoffer brav in der Tür steht und auf Anweisungen wartet, mit einer Notärztin und zwei durchtrainierten Spezialkommando-Soldaten abholt.

Mit einer souveränen Abschiedsgeste seines Piloten in die nun wieder zahlreich gezückten Handykameras der Crew und dem plötzlich ausfadenden ohrenbetäubenden Knattern des Militärhubschraubers klingen auch die Verantwortungsgefühle für diesen armen Kranken ab, der uns skurrilerweise genau dann in den Schoß gelegt wurde, als wir die Strapazen unserer langen Weltreise schon für beendet hielten. Sinnvoll eingesetzte Sprachkenntnisse hin oder her – Der Vorfall, dessen Intensität, dessen ohnmächtiges Krisenmanagement, dessen ignorante Teilnahmslosigkeit der meisten Crewleute unglaublich war, reibt uns noch wochenlang innerlich auf.

So vergegenwärtigen uns die aus dem Ruder gelaufenen Alkohol-Entzugserscheinungen eines bretonischen Fischers, dass man nicht von heute auf morgen, mir nichts, dir nichts, ohne Spuren in der Seele, von einer Reise auf der Erde um die Welt in den Schoß des geordneten Lebens zurückkehrt.

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4 Kommentare

  1. Uff – liest sich immer noch aufregend, auch wenn ich die Geschichte schon aus mündlichen Erzählungen kannte…

  2. viel zu schade für den schnelllebigen blog. wie viele andere in sich eigenständige geschichten reif für separate kurzgeschichten.

  3. Julia

    Hej Moritz, wirklich schöne Fotos, die ihr da gemacht habt! Die Texte hätte ich mir lieber von dir erzählen lassen, aber wenn ich die Zeit finde, lese ich sie mir mal durch :). Habe das Buch, von dem du erzählt hattest, bei uns in der Wohnung gefunden. Wo genau, erzähle ich lieber nicht… Es heißt „Pyongyang“ und ist von Guy Delisle. Meintest du das? Hoffe, du hattest noch eine entspannte Fahrt! Viele liebe Grüße aus Leipzig, Julia

  4. Ott Viktor

    Hey Moritz, sensationell geschrieben. Die Story fesselt…die musst du mir unbedingt live erzählen!!! Wir sehen uns in Hexham!
    Gruß

    Viktor Ott

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